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Medizintests: Heimkinder leiden noch heute

von Holger Bock und Marie-Caroline Chlebosch
15.01.2018

Sylvia Wagner ist im Rahmen ihrer Doktorarbeit auf Arzneimittelstudien gestoßen. Pillen und Säfte für Kinder, nur damit Ärzte Therapien und Nebenwirkungen erforschen können - Bereits vor gut einem Jahr trifft dieser Vorwurf die Kinder-Jugendpsychiatrie in Wunstorf in der Region Hannover.

Nach den Recherchen der Pharmakologien Sylvia Wagner aus Krefeld sollen die Ärzte in Wunstorf bis Mitte der 1970er-Jahre mindestens 286 Kinder Versuchen mit Schlafmitteln und Psychopharmaka unterzogen haben. Das geht aus einer Dissertation hervor, deren Ergebnisse Wagner Ende 2016 veröffentlichte.

Nun weitet sich der Vorwurf noch aus: Reporter von NDR 1 Niedersachsen und Hallo Niedersachsen haben herausgefunden, dass in Wunstorf wohl nicht nur Arzneimittel, sondern auch fragwürdige Untersuchungsmethoden an Kindern getestet wurden.

Medikamententests an Kindern in Psychiatrie
NDR//Aktuell - 15.01.2018 14:00 Uhr
In der Kinder- und Jugendpsychiatrie Wunstorf wurden in den 60er- und 70er-Jahren mindestens 286 Heimkinder Opfer von Medikamententests. Nun sollen die Versuche aufgearbeitet werden.

Tests ohne Einwilligung

Der Medizinhistoriker Heiko Stoff von der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) geht davon aus, dass es sich um Medizinversuche gehandelt haben muss. Die Versuche und Untersuchungen sind nach den NDR Recherchen offenbar auch ohne die dafür nötige Zustimmung der jeweiligen Erziehungsberechtigten erfolgt. Auch eine Aufklärung über Risiken der Versuche und Behandlungen fand offenbar nicht statt. Es seien keine Belege dafür gefunden worden, dass die Kinder oder ihre Eltern den Versuchen zugestimmt hätten oder über die Risiken aufgeklärt worden seien, sagt Wissenschaftlerin Wagner.

Sinn von Rückenpunktion bei Kindern nicht erkennbar

Konkret geht es um die sogenannte Pneumoenzephalografie, eine Lumbalpunktion im Lendenwirbelbereich, bei der Hirnwasser entzogen und Luft eingeführt wird. Anschließend wird der Kopf des Patienten geröntgt. Für die Betroffenen ist die Punktion mit tagelangen Kopfschmerzen und Erbrechen verbunden, wie Betroffene NDR 1 Niedersachsen und Hallo Niedersachsen berichtet haben. Ursprünglich wollten Mediziner mit dieser Methode Behinderungen und Nervenkrankheiten auf Röntgenaufnahmen sichtbar machen. Mitte der 1970er-Jahre gehörte die Methode allerdings schon nicht mehr zur Standarduntersuchung in der Psychiatrie, sagt beispielsweise Gergely Klinda in ihrer Dissertation zur Geschichte der Pneumoenzephalografie - auch, weil die Untersuchung extrem schmerzhaft und immer auch mit einem Infektionsrisiko verbunden gewesen sei, wurde sie demnach Anfang der 1970er-Jahre durch die Computertomografie abgelöst.

Verdacht der klinischen Forschungen ohne Zustimmung

Warum die Mediziner in Wunstorf trotzdem an dieser Methode festgehalten haben, ist unklar. Klar ist nur, dass einigen später in der Klinik tätigen Ärzten, die nicht genannt werden wollen, die ungewöhnliche Häufung der Pneumoenzephalografien aufgefallen ist. Vor allem, weil in den Krankenakten keine Gründe für die Untersuchungen vermerkt gewesen sei, sagen sie. Diese anscheinend grundlosen Untersuchungen legen den Verdacht nahe, dass es sich dabei um klinische Forschungen gehandelt haben könnte, vermutet Medizinhistoriker Stoff. Welches Erkenntnisinteresse die Ärzte damals noch an den Röntgenbildern gehabt haben könnten, ist unklar.


Quelle: NDR


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